Erinnerungen an die Zukunft

Ich mußte mir dringend etwas einfallen lassen. Eigentlich hatte ich gehofft, mein zuständiger Civil Community Agency Manager hätte sich etwas einfallen lassen. Hatte er aber nicht. Statt dessen nahm er die Gelegenheit wahr, mich auf die Konsequenzen der Ergebnisse meines letzten Pflichtscreenings hinzuweisen. Meine unverantwortliche Neigung zu scharf gewürzten Genocado-Dips (der einzige und eigentlich idiotisch teure Luxus, den ich mir gönnte) würde ganz offenkundig meinen Metabolismus destabilisieren. Daher müsse er mir gemäß der dritten Durchführungszusatzverordnung zum siebten Reformergänzungsgesetz zum Bürgersolidaritätsnachhaltigkeitsgesetz (BüSoNaG) das für meinen Jahrgang vorgesehene Jahresnormkontingent an Arztbesuchen von zwei auf einen Besuch kürzen. Auf meine spitzfindige Anmerkung, daß ich doch eigentlich schon mit der exorbitanten Cholesterinsteuer auf Genocados, mein fehlverhaltensbedingtes Zusatz-Schärflein zur Finanzierung der Pflege der Volksgesundheit beitrüge, meinte mein CCAM bloß, dies habe ihn nicht zu interessieren. Im übrigen, so müsse er mich korrigieren, sei das Aufkommen der Cholesterinsteuer zwar zweckgebunden, diene aber zu der von der Regierung angekündigten Senkung der Beiträge zur defizitären gesetzlichen Pflegeversicherung auf sechzehn Prozent.

So wie die Dinge standen, konnte ich jetzt wieder einmal zusehen, wie ich die nächsten Monate über die Runden käme. Auf jeden Fall müßte ich meine Mitgliedschaft im Young Senior Wellbrainfit Club ruhen lassen. Und Genocado-Dips waren auch gestrichen. Na ja, eigentlich hatte ich mich sowieso schon geraume Zeit darüber geärgert, daß sie es bei den Genocados zwar geschafft hatten, das Druckstellenproblem zu lösen, aber immer noch nicht, den Cholesteringehalt deutlich zu senken. Der war immer noch so hoch wie bei den Avocados, die es – mit entsprechenden Warnhinweisaufklebern – noch vor ein paar Jahren in einigen Bioläden zu kaufen gab.

Aber im Ernst. Es begann mir, angesichts meiner finanziellen Lage, nun doch ernsthaft Kopfzerbrechen zu bereiten, dieses nachgebesserte achte Reformergänzungsgesetz. Die im letzten Herbst mit knapper Mehrheit gewählte Regierungskoalition von „Wir sind die Mitte“ und „Die Anderen“ hatte es mit dem vom KanzlerInnen-Duo Olivia Nahles und Andreas Moldenhauer formulierten Leitmotiv „Eine andere Gerechtigkeit ist möglich“ auf den Weg gebracht. Nicht, dass ich grundsätzlich dagegen war. Schließlich hat Gerechtigkeit ihren Preis und schließlich hatte ja auch das Präsidium des Deutschen NGO-Fairnessrates das Gesetz mit der erforderlichen Einstimmigkeit passieren lassen. Aber mit nur einer, bislang kinderlosen, vierzigjährigen Tochter fiel ich dummerweise nicht in die Kategorie der Begünstigten dieses Gesetzes. Was in diesem Falle konkret hieß, daß ich für zusätzliche drei Jahre Beiträge in die Bürgersolidaritätsnachhaltigkeitsversicherung würde zahlen müssen.

Ich hatte insgeheim gehofft, daß ich, wie es die bisherige gesetzliche Regelung eigentlich vorsah, mit meinem einundsiebzigsten Geburtstag nächstes Jahr aus der Beitragspflicht fallen und statt dessen im übernächsten Jahr die ersten kleinen Leistungen erhalten würde. Dies hätte ich dringend nötig gehabt, denn das Haushaltskomitee meiner von der lokalen Civil Community Agency bezuschußten Active Young Seniors-WG hatte mir mitgeteilt, daß ich, da gänzlich ohne Enkelkinder, ab nächstem Jahr mehr in die Wohngeldumlagekasse unserer WG einzahlen müßte. Meinen Job als selbständiger Business Angel mußte ich zu allem Übel vor einigen Monaten an den Nagel hängen, als mir klar wurde, daß mit der nun doch zu erwartenden Anrechnung der Ersparnisse aus meiner damals vor 35 Jahren noch privat abgeschlossenen Lebensversicherung, meine Einkünftesteuerpflicht höher liegen würde als die genehmigten Einkünfte (Genehmigungsklasse 2) aus meiner Tätigkeit.

Es wurde jetzt also ganz eng. Ich hatte eine eindringliche anti-terror- und p.c.-gescreente E-mail-Konversation mit meiner Tochter: Wie wichtig ein Beitrag von ihr zu unserem Solidarsystem sei und daß sie doch bitte nicht nur an sich denken solle und wie schön schließlich ein Kinderlachen sei. Das könne ich aus eigener Erfahrung mit ihr sagen. Sie sei ein so entzückendes Kind gewesen. Aber nichts zu machen. Sie war der Meinung, daß mein Beitrag ja auch nicht umwerfend gewesen wäre und bezweifelte, daß ihr Kind, wenn sie eines hätte, viel zu lachen hätte – und selbst wenn – sehen würde sie das Lachen sowieso so gut wie nie, weil das Kind ja von Sonntag abends bis Samstag früh im Civil Community Kids Development Center gefördert würde.

Außerdem, so rechnete sie mir vor, seien ihre Pflichtbeiträge in die Bürgersolidaritätsnachhaltigkeitsversicherung sowie die immer noch nicht eingegliederte Pflegeversicherung schon so hoch, daß sie zusammen mit ihrer Einkünftesteuer, ihrer Leistungsfähigkeitssolidaritätssteuer und ihrer Wertverteilsteuer knapp fünfundachtzig Prozent ihres genehmigten Bruttogehalts (Genehmigungsklasse 3) abführen müsse. Und im Zuge der aktuellen öffentlichen Diskussion um Subventionsabbau sei der staatliche Zuschuß zu ihrem Gehalt auch nicht mehr sicher. Sie habe also – bei aller Liebe und selbst unter Berücksichtigung des Kindergeldanspruchs in Höhe von fünfzehn Prozent ihres genehmigten Bruttogehalts – keine Ressourcen für ein Kind, zumal sie als Freelance Civil Sustainability Coach der Social Innovation Consult AG beruflich mobil sein müsse. Ich mußte mir – wie gesagt – dringend etwas einfallen lassen.


Frankfurt am Main, 13. September 2004

Stinkreich@helops-ferratus.com

Zurück in die Zukunft