La Disparition (Anton Voyls Fortgang)

Zunächst verärgert, wollte ich mich mit dem Buch „La Disparition“ des Autors Georges Perec nicht befassen, nicht mal lesen wollte ich es (oder es ich; nicht „Essig“ obwohl der Aceto Balsamico aus Modena wirklich zu den guten gehört).

Ein „Ohne-E-Werk? Warum ausgerechnet das „E“? Der im Französischen meistverwendete Vokal! Der Autor (Franzose!) litt scheinbar unter einer Akzentschwäche. Der Buchstabe „E“ kann im Französischen mit allen vorhandenen Akzenten versehen werden.

Auf halber Strecke stehen geblieben, dachte ich und wollte mich meiner Lieblingsbeschäftigung wieder zuwenden. Dann aber meinte ich, wenn schon Knorpel das Werk in den Mund nimmt: schau doch mal genauer hin und musste dabei feststellen: tatsächlich fehlt das E in diesem Roman. Okay! In dem Roman geht’s zu wie bei Hempel unterm Sofa, also hin und her, drunter und drüber, Revolution, HNO-Probleme des Protagonisten, Visionen, Pferderennen, Mord, Moby Dick.

Hingegen ist in dem Roman „Les Revenentes“ (auf Deutsch: "Der Weedergenger") vom nämlichen Autor das „E“ der einzige Vokal. Auf alle anderen wurde verzichtet. Es handelt sich also um ein monovokalisches Werk mit zugegebenermaßen praller -wenn auch vokalbeschränkter- Geschichte, auf die ich im Weiteren nicht eingehen werde (nur so viel: Juwelenraub, Sex, anglikanischer Bischof von Exeter).

Ich wurde durch Knorpel offensichtlich auf eine falsche Fährte gelockt. Wie man liest, bin ich ihm nicht auf den Leim (nicht“ Laim“ wie z.B. in „Laimer Unterführung“) gegangen.

Das sind lipogrammatische Meisterwerke, die - vor allem, weil sie vieles verstecken - kaum lesbar sind. Jedenfalls für den „Normalmenschen“, der nun aber wiederum als der Begriffsverwirrte, der Wahnsinnige und Gefühlsverwirrte gilt. Gut, dass Knorpel und ich nicht zu denen zu rechnen sind. Ich jedenfalls konnte zur eigenen Überraschung den lipogrammischen Romanen viel abgewinnen und einiges dazulernen, wozu ja auch die Literatur anregen soll (Bldngsftrg).

Daneben las ich von der Nähe des Autors zu Raymond Quenau („Zazie dans le métro“), der die Bewegung Oulipo „(L’Ouvroir de Litterature Potentielle“ -Werkstatt für potentielle Literatur-) ins Leben gerufen hatte. Das machte ihn (den mir bis dato völlig Unbekannten) mir noch sympathischer. Ich muss mich also intensiver mit ihm befassen.

Also auf in die potentielle Literatur. Es sind zwei sehr aufregende Romane. Kann ich empfehlen gerade zu Weihnachten 2020 in Zeiten des Lockdowns. Auszuschließen ist nun wohl gar nicht, dass wir uns dieser lipogrammatischen potenziellen Literatur weiter annähern werden.

Georges Perec . „La Disparition“ ins Deutsche übersetzt nach „Anton Voyls Fortgang“ von Eugen Helmlé, 2001-Verlag, Frankfurt 1986 ; diaphanes, Zürich 2013, ISBN 978-3-03734-322-7. und „Les Revenentes“ (auf Deutsch „dee weedergenger“). Aus dem Französischen von Peter Ronge. Helmut Lang, Münster 2003, ISBN 3-931325-35-0.

Aule

gegeben am 14.12.2020 und korrigiert am 15.12.2020